Sachverhalt
Den Feststellungen den Landgerichts war der – nicht vorbestrafte – Angeklagte ein für Disziplin und Ordnung zuständiger „Sergeant at Arms“ im „Chapter Bonn“ Des Motorrad- und Rockerclubs „Hells Angels“[1].
Am 08. Oktober 2009 erschoss ein Mitglied der „Hells Angels“ ein Mitglied des verfeindeten Clubs „Bandidos“. Daraufhin begannen Gerüchte von einem Vergeltungsschlag gegen die „Hells Angels“ zu kursieren, bei dem ein Mitglied getötet oder schwer verletzt werden solle. Für diese Racheaktion wurde eine Belohnung von 25.000 Euro sowie ein Aufnäher, der die Tat symbolisiert, versprochen. Ein Mitglied der „Bandidos“, das noch Kontakte zu den „Hells Angels“ pflegte, gab an, dass ein anderes Mitglied aus diesem Zweck eine abgesägte Schrotflinte mit sich führte. Aus diesem Anlass war der Angeklagte überzeugt, dass ein Angriff auf ein Mitglied der „Hells Angels“ in Planung war. Parallel dazu ermittelten die Strafverfolgungsbehörden gegen mehrere Mitglieder der „Hells Angels“ und mehrere Durchsuchungsbeschlüsse wurden erlassen. Um eine stabile Lage herzustellen und eine ungestörte Durchsuchung zu ermöglichen, beschloss das Landeskriminalamt, dass ein Spezialeinsatzkommando eingesetzt werden solle. Der Angeklagte wurde als gewaltbereit eingeschätzt und war, mit behördlicher Erlaubnis, im Besitz von Schusswaffen. Zehn Beamte des Spezialeinsatzkommandos wurden am 17. März 2010 eingesetzt, um das Haus des Angeklagten zu durchsuchen. Sie umstellten das Haus des Angeklagten, um Fluchtmöglichkeiten auszuschließen und ein Türöffnungsspezialist begann mit einem hydraulischen Gerät die speziell gesicherte Haustür aufzubrechen. Der Angeklagte wurde zwischenzeitlich von seiner Verlobten geweckt, die den Einbruch wahrgenommen hatte, und nahm an, dass er das Opfer des angekündigten Überfalls der „Bandidos“ werden sollte. Daraufhin begab sich der Angeklagte mit seiner Pistole die Treppe hinab und schaltete das Licht ein. Die Beamten setzten trotz der Wahrnehmung des eingeschalteten Lichts den Aufbruch der Haustür fort. Dies führte den Angeklagten verstärkt zu der Annahme, dass es sich nicht um „normale“ Einbrecher, sondern um Mitglieder der „Bandidos“ handelte. Die Möglichkeit eines Polizeieinsatzes zog er nicht in Betracht. Als auch auf seinen Ruf „Verpisst euch!“ nicht reagiert wurde, den die Beamten nicht hörten und den Aufbruch fortsetzten, feuerte der Angeklagte zwei Schüsse durch die noch verschlossene Haustür ab. Dabei nahm er billigend in Kauf, dass ein Mensch tödlich getroffen werden könnte. Der Türöffnungsspezialist wurde vom zweiten Schuss tödlich getroffen. Ein anderer Polizist gab sich mit den Worten „Sofort aufhören zu schießen. Hier ist die Polizei.“ zu erkennen. Daraufhin legte der Angeklagte die Waffe unverzüglich weg und rief „Wie könnt ihr so was machen? Warum habt ihr nicht geklingelt? Wieso gebt ihr euch nicht zu erkennen?“. Der Angeklagte ließ sich widerstandslos verhaften.
Erste Instanz, LG Koblenz
Das Landgericht Koblenz sprach den Angeklagten am 28. Februar 2011 neben anderen Anklagepunkten des Totschlags schuldig und verurteilte diesen zu neun Jahren Haft[2]. Eine Notwehrsituation wurde dem „Hells Angel“ abgesprochen, da dieser nicht verhältnismäßig gehandelt habe, und vorerst durch einen Warnschuss oder ähnliche Mittel hätte warnen müssen[3]. Die zweifelsfreie Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes würde zudem eine Notwehrsituation, die ausschließlich bei einem rechtswidrigen Angriff gegeben sei, ausschließen. Die Staatsanwaltschaft betonte explizit die Zerstörungskraft der großkalibrigen Schusswaffe: „Jeder, der sich mit Waffen auskennt, weiß, dass der Einsatz dieser Schusswaffe Menschen in größte Lebensgefahr bringt“, mit der der Rocker aus einer Distanz von nur 2,50m durch die Tür schoss.
Dem Anwalt des Angeklagten zufolge, könne es nicht sein dass lediglich ein Warnschuss den Angeklagten vom Freispruch trenne und kündigte an, er werde Revision einlegen.
Letzte Instanz, BGH
Gegen die Verurteilung legte der Angeklagte Revision in Kombination mit einer Verfahrensrüge sowie Sachbeschwerde ein. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschied am 2. November 2011 für den Angeklagten indem es das Urteil des Landgerichts Koblenz aufhob und ihn des Totschlags freisprach.
Die Frage, ob der Angeklagte sich in einer Notwehrlage befunden habe, wofür der Polizeieinsatz rechtswidrig hätte sein müssen, lässt der Bundesgerichtshof selbst offen. Dies sei allerdings auch nicht von Bedeutung, da der Angeklagte sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befunden hätte.
Erlaubnistatbestandsirrtum
Der Erlaubnistatbestandsirrtum stellt einen wichtigen rechtlichen Aspekt des deutschen Strafrechts dar und ist in § 16 des Strafgesetzbuches (StGB) normiert. Der Begriff des Erlaubnistatbestandsirrtums bezeichnet eine fehlerhafte Vorstellung des Täters über die tatsächlichen Voraussetzungen eines rechtfertigenden Erlaubnistatbestands. Ein solcher Irrtum führt dazu, dass der Täter fälschlicherweise glaubt, sein Verhalten sei durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist. Das typische Beispiel hierfür ist der Irrtum über die Notwehrsituation gemäß § 32 StGB, bei der der Täter glaubt, sich in einer Notwehrlage zu befinden, obwohl keine solche vorliegt.
Ein Erlaubnistatbestandsirrtum setzt voraus, dass der Täter bei der Begehung der Tat in einem Irrtum über die tatsächlichen Umstände lebt, die einen rechtfertigenden Erlaubnistatbestand ausmachen. Der Fehler kann sowohl in Bezug auf die Tatsachen als auch auf die Rechtsfolgen des Handelns bestehen. Es wird dabei zwischen einem tatsächlichen und einem rechtlichen Irrtum unterschieden. Beim tatsächlichen Irrtum hat der Täter eine falsche Vorstellung über die tatsächlichen Gegebenheiten, die einen Rechtfertigungsgrund begründen würden. Beispielsweiseglaubt der Täter, er sei in einer Notwehrlage, weil er annimmt, der andere habe ihn mit einem Messer angegriffen, obwohl dieser dies in Wirklichkeit nicht getan hat. Beim rechtlichen Irrtum ist der Täter sich über die rechtlichen Voraussetzungen eines Erlaubnistatbestands nicht bewusst, obwohl er die tatsächlichen Umstände korrekt erkennt. Hier handelt der Täter in der irrigen Annahme, seine Handlung sei aufgrund einer besonderen Notstandsregelung gerechtfertigt, obwohl diese Regelung in der konkreten Situation nicht anwendbar ist. Nach § 16 Abs. 1 StGB führt ein Erlaubnistatbestandsirrtum nicht zu einer Strafbarkeit des Täters, wenn dieser Irrtum vermeidbar war. Ist der Täter aufgrund des Irrtums von der Rechtsmäßigkeit seines Handelns überzeugt, hat er nicht mit Vorsatz, sondern mit einem unbeabsichtigten Fehler hinsichtlich der Rechtfertigungshandlung gehandelt. Dies kann zu einer Strafmilderung oder sogar zu einem vollständigen Ausschluss der Strafbarkeit führen, wenn der Täter den Irrtum nicht vermeiden konnte. Dabei wird geprüft, ob der Täter den Irrtum hätte erkennen können und müssen, wobei der Maßstab des sogenannten „objektiven Beobachters“ angelegt wird. Ein Erlaubnistatbestandsirrtum ist dann vermeidbar, wenn der Täter bei Beachtung der allgemeinen Sorgfaltspflichten den Irrtum hätte durch Überlegung oder Nachforschung vermeiden können. War der Irrtum jedoch unvermeidbar, so bleibt der Täter straffrei.
BGH, 02.11.2011 – 2 StR 375/11, Rn. 21
„Die Voraussetzungen eines Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes liegen vor. Dies führt entsprechend § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Ausschluss der Vorsatzschuld.[4]“
Der Angeklagte handelte somit innerhalb eines Erlaubnistatbestandsirrtums. Einen „normalen Einbruch“ schloss er durch die fehlende Beeinträchtigung der „Angreifer“ durch das Einschalten der Beleuchtung und seine verbalen Hinweis aus. Aus seiner Sicht bestand eine akute Gefahr für sein Leib und Leben sowie das seiner Verlobten. Somit handelte er innerhalb einer irrtümlich angenommenen Notwehrlage. Des Weiteren wurde eine Fährlässigkeit des Angeklagten gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 ausgeschlossen, da dieser den Irrtum nicht hätte vermeiden können.
BGH, 02.11.2011 – StR 375/11, Rn. 23
„Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, dann ist sie grundsätzlich dazu berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; der Angegriffene muss sich nicht mit der Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist.“
Ebenfalls müsste der Angeklagte im gesetzlichen Rahmen der irrtümlich angenommenen Notwehrlage gehandelt haben. Hierfür müsste die Notwehrhandlung sowohl erforderlich als auch geboten sein. Eine Notwehrhandlung ist nach allgemeinem Verständnis erforderlich, wenn sie geeignet ist, den rechtswidrigen Angriff abzuwehren und unter verschiedenen Optionen das vergleichsweise mildeste Mittel darstellt. Die Schüsse des Angeklagten sollten als Form der Trutzwehr geeignet sein, den angenommenen Angriff endgültig abzuwehren. Das mildeste Mittel stellt die unter mehreren gleichwirksamen Möglichkeiten die Möglichkeit dar, die den geringsten Schaden anrichtet. Ein Warnschuss würde zwar weniger Schaden verursachen, jedoch wäre dieser aus Sicht des Angeklagten nicht geeignet gewesen, den Angriff abzuwehren. Zudem Bestand für ihn sowohl ein immenser Zeitdruck, da die Tür fast vollständig aufgebrochen war, als auch die Gefahr, selbst durch die Tür beschossen zu werden. Die Gebotenheit einer Notwehrhandlung richtet sich nach dem Verhältnis zwischen persönlicher Gefährlichkeit des Angreifers und der Intensität des Angriffs einerseits und der Schutzbedürftigkeit der angegriffenen Person andererseits. Da der Angeklagte annahm, bei einem Racheakt der Bandidos zu erheblichem Schaden oder gar zu Tode zu kommen, ist die Gebotenheit der Handlung gegeben.
BGH, 02.11.2011 – StR 375/11, Rn. 26
„Da keine weitergehenden Feststellungen zu erwarten sind, die zu einem anderen Ergebnis führen könnten, ist der Angeklagte freizusprechen. Die Einsatzstrafe entfällt; daher muss auch die Gesamtstrafe aufgehoben werden.“
Der Bundesgerichtshof sprach den Angeklagten des Totschlags frei. Die Entscheidung führte zu einer starken öffentlichen Debatte und wurde von vielen, unter anderem der Gewerkschaft der Polizei missbilligt.
[1] BGH, 02.11.2011 – 2 StR 375/11
[2] LG Koblenz, 28.02.2011 – 3 Ks 2090 Js 16853/10
[3] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/erschossener-polizist-hells-angel-muss-neun-jahre-hinter-gitter-a-748044.html, aufgerufen am 06.03.2025
[4] BGH, 02.11.2011 – 2 StR 375/11, Rn. 21
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