Am 27. Mai 2019 urteilten die obersten Richter der Europäischen Union in Großer Kammer, dass deutsche Staatsanwaltschaften – abweichend von ihren litauischen Kollegen – nicht dazu befugt sind, Europäische Haftbefehle auszustellen (Urt. v. 27.05.2019, Az. C-508/18; C-82/19). Für die EuGH-Richter ist das Risiko der politischen Einflussnahme nicht ausgeschlossen. Etwa 5.600 Haftbefehle landesweit dürften so nun unwirksam sein. Nationale Richter fordern Gesetzesreformen.
Anlass für das Urteil gaben insgesamt drei Klagen, in denen sich zwei litauische und ein rumänischer Staatsangehöriger in Irland gegen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EuHb) zur Wehr gesetzt hatten. In einem Fall wurde der EuHb von der Generalstaatsanwaltschaft Litauen ausgestellt, in den anderen beiden Fällen handelte es sich um deutsche Staatsanwaltschaften, Lübeck und Zwickau. Irland legte den Fall dem Europäischen Gerichtshof zur Auslegung und Klärung vor.
Nach Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl vom 16.06.2002 (Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI v. 26.02.2009) ist die ausstellende Justizbehörde die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäisches Haftbefehls zuständig ist. Nach geltendem deutschen Recht sind für die Ausstellung von Auslieferungshaftbefehlen in Deutschland die deutschen Staatsanwaltschaften bzw. die Generalstaatsanwaltschaft des jeweiligen Bundeslandes zuständig.
Hiergegen richtete sich die Beschwerde der Betroffenen. Sie rügten insbesondere, dass die deutsche Staatsanwaltschaft keine „Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses sei. Es fehle ihr dazu die nötige Distanz zur Politik.
Hintergrund: Mit dem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl wurde in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das zweistufige Verfahren, bestehend aus einer politischen Bewilligungs- und einer rechtlichen Zulässigkeitsprüfung, zugunsten eines einstufigen rein justiziellen Verfahrens abgelöst. In einem gemeinsamen Raum der Sicherheit, Freiheit und des Rechts solle gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Anerkennung von justiziellen Entscheidungen herrschen. Das übliche traditionelle Auslieferungsverfahren wurde durch ein vereinfachtes Übergabeverfahren zwischen den Justizbehörden ersetzt.
Damit geht jedoch einher, dass der rein justizielle Entscheidungsakt über die rechtliche Zulässigkeit der Auslieferung frei von politischen Motiven sein muss. Das Verfahren in Deutschland böte hier jedoch Möglichkeit zu zweifeln, so urteilten die EuGH-Richter aus Luxemburg. Die deutschen Staatsanwaltschaften seien zwar eigene Organe der Strafrechtspflege, doch seien sie nicht unabhängig genug. Schließlich unterstehe die Staatanwaltschaft der Generalstaatsanwaltschaft des jeweiligen Bundeslandes. Diese unterstehe wiederum allein dem Justizministerium und sei daher letzten Endes in politischer Hand.
In seinem Urteil kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die deutsche Staatsanwaltschaft der Gefahr ausgesetzt sei, im Rahme des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines EuHb unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Anweisungen seitens der Exekutive wie z.B. des Justizministers unterworfen zu werden. Allein diese Möglichkeit der Einflussnahme biete „keine hinreichende Gewähr für die Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive“, so der EuGH.
Laut Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) seien derzeit ungefähr 5.600 Europäische Haftbefehle, ausgestellt von deutschen Staatsanwaltschaften im Umlauf. Diese dürften nach der Rechtsprechung des EuHG unwirksam sein und müssen neu ausgestellt werden. Auf die Justiz kommt ein erheblicher Mehraufwand zu, der zu Verfahrensverzögerungen führen wird. Leidtragende sind unter anderem auch die Beschuldigte, die die Verzögerungen durch die Formaljuristerei in Haftzellen in Kauf nehmen müssen.
Richterverbände stoßen wieder mit der Forderung vor, die Weisungsbefugnis des Justizministers an die Staatsanwaltschaften gem. § 146 GVG gänzlich abzuschaffen. Dazu müsste jedoch das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) zunächst reformiert werden.
In Anbetracht dessen, dass zahlreiche Beschuldigte, verteilt in der gesamten EU in Auslieferungshaft sitzen und andere womöglich trotz des formell rechtswidrigen Haftbefehls ausgeliefert werden, ist eine unverzügliche Reaktion und Anpassung der Gesetze durch die Legislative das Gebot der Stunde.